Der Zeichner von Zürich
Naegeli steht auf einem der Klingelschilder eines Mehrfamilienhauses im Zürcher Kreis 7, darüber und darunter scheinen Menschen namens Schwitters und Arp zu wohnen. Tummelt sich Harald Naegeli etwa unter den Nachfahren der grossen Dadaisten des vergangenen Jahrhunderts? Nun ja. Fast. Die Künstlergrössen liegen schon eine ganze Weile unter der Erde, die Klingelschilder mit ihren Namen sind zum Spass angebracht – von keinem anderen als Harald Naegeli selbst. Der «Sprayer von Zürich» ist auch mit 84 Jahren immer noch zu Streichen aufgelegt. Kaum, dass man das Haus des Urvaters der Streetart betreten hat, ahnt man es schon: hinter dem Name Naegeli verbirgt sich weit mehr als Sprühdosen und Strichfiguren an den Wänden. Denn eigentlich war da immer zuerst das Zeichnen, das Skizzenbuch ständiger Begleiter des Studenten an der Kunstgewerbeschule. «In den 68ern habe ich dann gesehen, wie die Studenten die Spraydose für Parolen eingesetzt haben. Da kam bei mir die Idee, es ihnen gleichzutun, anstatt in mein Buch auf die Wände zu skizzieren.» Naegeli besorgt sich Spraydosen und wagt erste Zeichenversuche auf versteckten Wänden. «Erst habe ich ganz schüchtern in einem Hinterhof eine Figur gesprayt. Das war dann wie eine Art Dammbruch. Ich kam immer mehr in einen Rausch hinein und wollte die ganze Stadt mit meinen Augen und Figuren überziehen.» Der Rest? Ist Geschichte. Stadtgeschichte und Kunstgeschichte zugleich. Denn Naegeli kann zweifelsohne als einer der Wegbereiter der europäischen Graffiti-Kultur betrachtet werden und hat die Kunstszene in Zürich wie auch in anderen europäischen Städten entscheidend mitgeprägt. Kein Wunder meinen viele, dass auch Naegelis eigene vier Wände von den schwungvollen Linien seiner Graffiti-Figuren, von gesprayten Augen, Flamingos und tanzenden Skeletten übersät sind. Doch Naegeli wäre nicht Naegeli, wenn er nicht auch hier für einen Moment der Verwunderung sorgen würde. Die Casa Naegeli erstrahlt in erhabenem Weiss, hier und da hängen kleine und grossformatige Zeichnungen und Collagen an den Wänden oder lehnen auf Staffeleien. Die Farbpalette ist reduziert, neben dem Weiss der Wände, des Papiers und der Leinwände ist Schwarz die vorherrschende Farbe. Graffiti, Spraydosen, der Geruch von Sprühlack? All das sucht man vergeblich. «Ich habe wenn man so will zwei Seiten. Ich bin Sprayer – und ich bin bürgerlicher Künstler», beschreibt sich Harald Naegeli selbst. «Es geht bei meinen Arbeiten immer um eine vielfältige Auseinandersetzung mit dem Raum, dem Innenraum und dem Aussenraum. Der Aussenraum wird mit dem Spray bearbeitet, im Innenraum sind verschiedene Techniken möglich.» Tatsächlich stechen in Naegelis Wohnatelier die verschiedensten Werke und Medien ins Auge. Da sind die über 500 Skizzenbücher, in denen der Künstler mit flinker Hand festhält, was ihm gerade unter die Nase kommt. Da sind die Collagen aus schwarzem Klebeband, die Filzstift- und Tuschezeichnungen, die überdimensionalen Urwolken. Und vor allem: Tiere. Immer wieder blitzen Zeichnungen von Pferden, Hühnern oder Hunden zwischen den Seiten der Skizzenbücher hervor, auch auf den Bildern an den Wänden lässt sich hier und da ein Tier erkennen. Es sind die Bewegungen, die Naegeli faszinieren – ob impulsiv und voller Schwung, wie bei der gesprayten Undine, die sich seit Jahrzehnten lässig an eine Aussenwand des Deutschen Seminars der UZH lehnt; oder ob subtil und fast schon intim, wie in seinen Tierstudien, den kleinformatigen Landschaftszeichnungen oder minimalistischen Fantasiefiguren auf Papier. Fasst der Adelstitel «Sprayer von Zürich» also zu kurz? Vielleicht. Gleichzeitig bleibt so Platz für Neues, für Unerwartetes und Überraschungen. Denn auch wenn Naegeli inzwischen nur noch vom Sprayen träumt – seine Gesundheit lässt es nicht mehr zu, mit der Spraydose um die Häuser zu ziehen –, wird er nicht müde, jeden Tag aufs Neue zum Skizzenblock zu greifen, zu zeichnen, malen und zu collagieren. Und zu zeigen, wie viel Künstler noch immer in ihm steckt. Was wohl die Herren Schwitters und Arp dazu sagen würden? Vielleicht wäre es doch keine schlechte Idee, beim nächsten Besuch einmal bei den Klingeln über dem Namen Naegeli zu läuten… Sprayer, Zeichner, Tierfreund, Musée-Fan, Geisterbeschwörer – Harald Naegelis mögliche Beinamen sind so vielfältig wie sein Werk. Im Rahmen des Naegeli-Monats Juni, findet vom 6. bis 26. Juni eine Benefizauktion im Musée statt. Ausgewählte Werke von Harald Naegeli werden im frei zugänglichen Museumsshop an die oder den Höchstbietenden versteigert. Der Erlös geht hälftig an den Hof Narr, einen Gnadenhof für Tiere in Hinteregg, sowie an das Musée. Das Musée Visionnaire ist – wie der Name sagt – eine visionäre Institution, die auch von vielen Freiwilligen mitgetragen wird. Es ist ein Museum, das mir sehr gut gefällt, besser als diese etablierten kaufmännischen Institutionen. Und weil der Staat und die Stadt ja keine Unterstützung geben, soll ein Teil des Erlöses von der Auktion an das Musée gehen.
Die Faszination für Tiermotive begründet Naegeli mit einer tiefen Verbundenheit für die ursprünglichen Bewegungselemente, welche Tiere für ihn symbolisieren. Als den «Ursprung der Zeichnung» bezeichnet er diese. «Das Zeichnen geht vom Punkt aus: Man macht einen Punkt, der Punkt wird verlängert, expandiert, er wird zu einer Linie, die Linie wird zu einer Fläche und die Fläche zum Raum. Beim Zeichnen geraten die Punkte in Bewegung – und werden je nachdem zu einem Baum, einem Menschen – oder eben einem Tier.»
Genau diese Bewegungen, das Extrovertierte des Zeichnens in der Öffentlichkeit und das Introvertierte des zeichnerischen Prozesses an sich, bringen das Innen und Aussen und damit die scheinbaren Gegensätze im Werk von Naegeli wieder zusammen.
(Harald Naegeli, April 2024)